Innerhalb der Interpretationsforschung des 19. Jahrhunderts sind bisher zwei grundlegende Fragen ungenügend beantwortet: Wie schnell hat sich die äquidistante Halbtonstimmung durchgesetzt bzw. wie lange haben nicht-äquidistante Stimmungen noch existiert, und wie haben sich frei intonierende Instrumente bzw. die Gesangsstimmen dazu verhalten? Die bestehende Literatur dazu erweist sich fast durchgehend als dogmatisch, die Praktiker hingegen – selbst die «historisch informierten» wie die Hammerklavierspieler – nähern sich diesem Themenkreis meist völlig pragmatisch. Das vorliegende Forschungsprojekt begibt sich in vier parallelen Arbeitsgruppen auf die Suche nach Belegen:
- Klavier/Musiktheorie: statistische Bestandsaufnahmen zur Tonartenwahl und zu tonartenspezifisch verwendeten Satztypen in Schuberts Liedern, die auf die Verwendung bestimmter Stimmungen hinweisen.
- Akkordeon: Untersuchung von erhaltenen Originalinstrumenten sowie Archivrecherchen und Interviews mit (meist pensionierten) Mitarbeitern in Trossingen, im Vogtland und in der Gegend von Ancona, wo die traditionsreichsten Hersteller dieses erst im 19. Jahrhundert erfundenen Instrumententypus beheimatet sind.
- Orgel: Suche nach Archivdokumenten zur Tätigkeit der Orgelbauer und -stimmer im 19. Jahrhundert.
- Akustik: Auseinandersetzung mit dem beginnenden Einfluss der modernen Naturwissenschaften auf die Musiktheorie, wobei der zunehmend mathematische Zugang zur musikalischen Temperatur nur eine Facette einer grundlegenden Veränderung des Hörens in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellt.
Bild: Ausschnitt aus Robert Fludd, De Metaphysico Macrocosmi et creaturaru[m] illius ortu, (Caput III. De monochordo mundano, et de consonantiarum illius, tam simplicium quam compositarum inventione...), Oppenheim: Johann Theodor de Bry & Gallus Hieronymi 1617, S. 90 © SLUB/Deutsche Fotothek