Während bekannt ist, dass bereits Carl Maria von Weber eine bis heute geltende, standardisierte Abfolge der finalen Proben für Operninszenierungen festgelegt hat, sind die Abläufe der vorausgehenden Klavier-, Streichquartett- und Orchesterproben in der damaligen Zeit bisher kaum erforscht. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem erhaltenen Stimmenmaterial der Opern- und Konzertorchester zu, welches wertvolle Hinweise beispielsweise durch die während der Proben eingetragenen Ergänzungen der Musiker enthält. Durch den Vergleich von viel gespieltem mit wenig gespieltem Repertoire lassen sich mit Hilfe philologischer Methoden die oft zahlreichen Schichten von Annotationen differenzieren und zuordnen. Oft finden sich in den Aufführungsstimmen Revisionen und Ergänzungen, die Rückschlüsse auf die vorausgegangene Probenarbeit zulassen. Dabei wurden viele heute allgemein übliche Eintragungen – etwa zur Stricheinrichtung – entweder überhaupt nicht oder zumindest nicht in der heute üblichen Form gemacht.
Durch die praktische Umsetzung des Notentextes in Klang («Embodiment») und die Rekonstruktion der Probensituation müssen die in den Notentexten verborgenen Hinweise und Codes erst wieder entschlüsselt und so die Strategien der historischen Orchesterpraxis erforscht werden. Wie wurde in Spitzenorchestern – beispielsweise in der Dresdner Hofkapelle unter dem Konzertmeister Karol Lipiński oder in Liszts Weimarer Orchester unter dem Konzertmeister Joseph Joachim – geprobt, wer traf welche Entscheidungen, wie wurden sie an die anderen Musiker weitergegeben?
Bild: Franz Schubert: Alfonso und Estrella, Uraufführungsmaterial 1854, Violino Primo No. 1, (THStA Weimar, o. Sign, S. 62, Eintragung mit Bleistift möglicherweise von Franz Liszt)