Historisch-kritische Editionen literarischer Werke müssen ihr Textkorpus in historischen Zusammenhängen verorten, Textentstehung, literarische Arbeitsprozesse und Nachlassmaterial kritisch aufbereiten und präsentieren. Kaum ein Editionsprojekt reflektiert dabei explizit auf den möglichen Mehrwert für die künstlerische Produktion selbst: Wie könnte Editionspraxis aussehen, die den literarischen Schreibtisch produktiv für die Arbeit anderer AutorInnen aufbereitet?
Das bis auf drei Einzeleditionen bislang unzugängliche Werk des Schriftstellers und Komponisten Alfred Wälchli stellt hohe Anforderungen an eine zeitgemässe Beschreibung und Edition. Wälchlis an Mündlichkeit ausgerichtete Ausdrucksweise, seine eigenständige Notation, der komplexe Entstehungsprozess seiner Werke und eine hermetische Sprache machen es notwendig, über angemessene Verfahren der Kommentierung und Veröffentlichung nachzudenken.
In diesem Vorbereitungsprojekt auf ein SNF-Folgeprojekt wird nach Möglichkeiten gesucht, Wälchlis literarisches Werk einer produktionsorientierten Interpretation zugänglich zu machen. Speziell interessieren ausgeprägt eigenwillige Schreibeigenschaften, die aus den Typoskripten im Nachlass herausgearbeitet werden sollen. Wälchlis literarische Regelwerke und seine konkrete Schreibumgebung sind in Nachbarschaft zu anderen zeitgenössischen experimentellen Schreibverfahren und unkonventionellen Poetiken zu setzen.
Sodann interessiert, welche didaktischen Perspektiven entsprechende Erkenntnisse für die Kunsthochschullehre freigeben könnten: Wie kann eine Werkaufarbeitung aussehen, die AutorInnen für deren eigene Arbeit direkt verfügbar ist? Oder anders: Wie wäre Wälchli «anwendungsorientiert» zu lesen (und später auch zu edieren)? Zu diesem Zweck soll eine prototypische Softwareapplikation für AutorInnen entwickelt werden, die experimentelle Schreibumgebungen versammelt, zueinander in Beziehung setzt und für poetologische und poetische Weiterentwicklungen bereitstellt.
Symposium
Im Rahmen des Symposiums Improvisieren – Interpretieren findet am 19. Oktober 2013, 9.30–12.45 Uhr auch eine Veranstaltung zum vorliegenden Projekt statt. Neben einem Vortrag von Roman Brotbeck zu Serialität und Symbolik in Wälchlis Texten steht insbesondere eine von Stefan Humbel und Urs Richle geleitete Podiumsdiskussion mit Christian von Zimmermann, Francesco Micieli und Camille Luscher auf dem Programm.
Ausgehend vom fragmentarisch gebliebenen und höchst singulären literarischen Werk des Schriftstellers und Komponisten Alfred Wächli wird nach den Möglichkeiten von Veröffentlichungs- und Kommentierungspraktiken von Literatur gefragt, Praktiken, die ebenso sehr die Standards aktueller Editionsverfahren wie auch den praktischen Mehrwert in Betracht nehmen, der aus der Literaturproduktion selbst für die Herausgabe komplexer Texte zu erwarten wäre.