In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts steigen an den Pariser Opernbühnen die Erwartungen an die schauspielerischen Fähigkeiten der Sängerinnen und Sänger zunehmend. Das vorliegende Projekt geht dieser Entwicklung nach und untersucht das Verhältnis von Gesang und Schauspiel in der Darstellungspraxis jener Zeit.
Da im Gegensatz zur musikalischen Notation Anweisungen zur Rollendarstellung mit schriftlichen Mitteln nur unzureichend festzuhalten sind – für diese komplexen visuellen Vorgänge auf der Bühne wurde kein allgemeingültiges Schriftsystem entwickelt –, muss das Wissen um die gängigen Rolleninterpretationen mit Hilfe unterschiedlichster Quellen (Opernlibretti, Abbildungen, Cahiers de mise-en-scène, Schauspieltheorien, Gesangstraktate, etc.) erschlossen werden.
Dabei gilt es, die Beziehungen zwischen kodifizierter Gestik, Improvisation und Regieanweisung in der Darstellungspraxis der Sängerinnen und Sänger aufzuzeigen sowie Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Entwicklung von Schauspiel und Musiktheater festzuhalten. Die verschiedenen Fragestellungen werden mittels ikonographischer, musikwissenschaftlicher und schauspieltheoretischer Methoden erforscht.
Das Projekt fördert – unter anderem im Rahmen eines Workshops – die praktische Erprobung der gewonnenen Erkenntnisse und stärkt innerhalb der HKB die Vernetzung der Studiengänge im Fachbereich Oper/Theater.
Workshop
Am 26./27. November 2010 führte das Projektteam einen Gestik-Workshop mit Sängerinnen und Sängern sowie Schauspielerinnen und Schauspielern der Hochschule der Künste Bern durch. Ziel des Workshops war es, die im Rahmen des Forschungsprojektes anhand des Quellenstudiums gewonnenen Erkenntnisse auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen und sie unmittelbar für die Lehre nutzbar zu machen.
Nach einer ersten theoretischen Auseinandersetzung mit den historischen Gesten anhand von Lehrbüchern und Traktaten wagten sich die Studierenden an deren Erprobung in der Praxis. Einleitende Übungen widmeten sich der Bewegung im Raum auf der Basis vorgängig vereinbarter Kommandos und dem abrupten Innehalten («Freeze») zu einem beliebigen Zeitpunkt. Aus diesen zufällig entstandenen Posen heraus entwickelten die Studierenden eine für sie stimmige Situation (Wo befinde ich mich? Weshalb? Was ist geschehen und wie?). Eine ähnliche Versuchsanordnung bildete die Übung «Bildhauer und Statue», bei welcher der Bildhauer (Teilnehmer 1) am lebenden Objekt (Teilnehmer 2) eine Statue entwarf, indem er deren Körper in die von ihm gewünschte Position brachte. Ziel dieser Übungen war die Sensibilisierung für eine in der Ausbildung von Schauspielern und Sängern heute eher ungebräuchliche Herangehensweise: jene von der äusseren Form zur inneren Wirkung.
In weiteren Übungen mussten die Teilnehmer einen Text und später ein Gesangsstück vortragen; zunächst ohne Gestik, lediglich mit der Verlagerung des Körpergewichts zwischen Spiel- und Standbein – wie Gilbert Austin den Bewegungsspielraum für den Redner im elften Kapitel seiner Chironomia beschreibt. In einem nächsten Schritt wurden der Rumpf, später Arme und Hände und schliesslich der Kopf und die Augen als weitere Aktionsparameter hinzugefügt. Deutlich wurde angesichts der begrenzten Anzahl vorgegebener Gesten insbesondere, wie viele überflüssige, bewusst oder unbewusst eingesetzte Bewegungen insbesondere Sänger oftmals ausführen – sowohl beim Proben als auch auf der Bühne – und dass eine von aussen aufgezwungene «Ökonomisierung» der Gesten nicht zwingend deren Wirkung einschränkt oder abschwächt.