Im Mittelpunkt der SNF-Förderungsprofessur steht die Auswertung der so genannten «instruktiven Ausgaben», die ein wichtiges Zeugnis der akademisch-professionellen Musikpraxis des 19. Jahrhunderts darstellen. Im Gegensatz zur älteren Traktatliteratur und den Tonaufzeichnungen des frühen 20. Jahrhunderts, die je für sich schon Gegenstand umfangreicher Forschung waren, ist diese Quellengruppe bislang kaum beachtet worden. Die Interpretationsanweisungen der meist berühmten Herausgeberinnen und Herausgeber (z.B. Louis Spohr, Clara Schumann, Hans v. Bülow, Hugo Becker) bestehen nicht nur aus detaillierten Vortragsbezeichnungen im Notentext, sondern umfassen zusätzlich einen ausformulierten Kommentar, der teilweise mehr als die Hälfte der jeweiligen Druckseite einnimmt oder separat veröffentlicht ist.
Diese Instruktionen mit zugehörigem Notentext werden im Rahmen der Forschungsarbeit nach einer klangorientierten Prioritätenliste ausgewertet. Ausserdem werden sie zu den Anweisungen musikalischer Vortragslehren aus dem 19. Jahrhundert in Beziehung gesetzt und schliesslich mit den Befunden früher Tonaufzeichnungen verglichen. Erst auf dieser breiten Quellenbasis wird es möglich, verschiedene Interpretationsmodi in der Musikpraxis des 19. Jahrhunderts verlässlich einzuschätzen. Dabei sollen bestimmte Standards einer akademischen Interpretationslehre aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet und beschrieben werden, auf die das frühe 20. Jahrhundert mit einer neuen, umfassenden Standardisierung aller Bereiche der Musikpraxis reagierte, die bis heute – zumeist unbemerkt oder unreflektiert – wirksam geblieben ist.
Vgl. auch das Nachfolgeprojekt Verkörperte Traditionen romantischer Musikpraxis
Bild: Lilli Lehmann (1854–1929), «Arie der Donna Anna», in: Meine Gesangskunst, Berlin 1909 (2. Auflage), S. 62.
Interpretationsforschung
Vom 6.–8. Mai 2015 fand in Zusammenarbeit mit der Universität Bern ein Symposium zum Thema Interpretationsforschung statt. Nähere Informationen und das Programm mit den Abstracts finden sich auf der Veranstaltungsseite, hier einige Impressionen aus dem Programm sowie der Link zum ausführlicheren Fotostream auf Flickr.