Publikationen

Materialien zum Jazz in der Schweiz

Das persönliche Archiv von Christian Steulet

(Version française)

In den Jahren 1965–1980 präsentierte sich der Jazz in der Schweiz im Aufbruch: Zunehmend emanzipierten sich die Musikerinnen und Musiker von ihren amerikanischen Vorbildern und spielten auch eigene Stücke. Irène Schweizer, Pierre Favre, Urs Blöchlinger und weitere Akteure wurden zu einfluss­reichen, ja prägenden Vertretern der europäischen Free-Jazz-Bewegung. International anerkannte Schweizer Bands wie Magog oder OM leisteten einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des Jazz-Rock. Als wichtige Drehscheiben für avancierten Jazz in Europa etablierten sich zudem die neugegründeten Festivals in Montreux (ab 1967), Willisau (ab 1975) oder Nyon (ab 1974). Neu auftretende Labels wie Intakt und Hat Hut dokumentierten diesen Aufbruch. Die Gründung von Jazzschulen in Bern (1967) und später in Luzern (1972) ermöglichten schliesslich eine Professionalisierung der Ausbildung.
In jüngerer Zeit erschienen zahlreiche Einzeluntersuchungen zu Festivals (Willisau, Montreux), städtischen Szenen (Zürich) und Stilrichtungen (improvisierte Musik), MusikerInnen (Irène Schweizer). Quellen wurden gesichert – Niklaus Troxler etwa übergab sein ganzes Willisauer Archiv 2011 an die Hochschule Luzern und die Schweizerische Nationalphonothek. Gesamtdarstellungen fehlen bisher aber weitgehend; eine Ausnahme ist der materialreiche Band Jazz in der Schweiz, herausgegeben von Bruno Spoerri (Chronos, 2005).

Growing Up

Unter dem Titel Growing Up. Die Emanzipation des Jazz in der Schweiz 1965–1980 führten die Musikhochschulen von Bern, Luzern und Lausanne gemeinsam mit der Universität Bern daher 2013–2016 ein SNF-Projekt durch. Die Initiative hierzu stammte vom 1961 geborenen Christian Steulet, der sich bereits in seiner geschichtswissenschaftlichen Lizentiatsarbeit Réception du jazz en Suisse. 1920-1960: développement industriel d'une culture musicale populaire (pdf) (Uni Fribourg 1987), dem (frühen) Jazz in der Schweiz gewidmet hatte. Später förderte und begleitete er ebendiesen Schweizer Jazz auf vielfältige Art und Weise: als künstlerischer Leiter der Association pour l’encouragement de la Musique impRovisée (AMR), als Stiftungsrat bei der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, als Journalist, als Berater des SwissJazzOrama in Uster sowie als Dozent für Jazz-Geschichte und Mitarbeiter der Mediathek an der Musikhochschule Lausanne und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule der Künste Bern (HKB). Dort untersuchte er zuletzt im Rahmen des SNF-Projektes Cultural relations between Switzerland and South Africa, 1948–1994 das Wirken und die Einflüsse von südafrikanischen Musikern in der Schweiz während der Apartheid-Zeit.

Emergence d’une scène musicale populaire en Suisse

Innerhalb des SNF-Projekts Growing Up leitete Christian Steulet im Auftrag der HKB das Teilprojekt «Die Bühnen des Aufbruchs – Festivals und Clubs». Dieses Teilprojekt untersuchte die Frage: Wie entstanden und funktionierten die grossen konzertveranstaltenden Jazz-Institutionen in der Schweiz und welches Echo lösten sie aus? Dabei wurden einerseits schriftliche und audio-visuelle Quellen zur Genese und weiteren Entwicklung exemplarisch ausgewählter Festivals (Montreux, Nyon, Willisau, Zürich) und einer vielfältigen Clubszene (Beispiel Zürich) gesichert und andererseits in strukturierten Interviews Schlüsselpersonen zu Geschichte, Kontext und Bedeutung dieser Institutionen befragt.
Die so zusammengetragenen Materialien und Erkenntnisse flossen in Steulets Dissertationsprojekt ein, 1960–1980: Emergence d’une scène musicale populaire en Suisse. Protagonistes, organisations et performances, das von Britta Sweers (Universität Bern) und Thomas Gartmann (Hochschule der Künste Bern) betreut wurde.
Völlig überraschend erlag Christian Steulet am 8. Mai 2020 einem Herzversagen, zwei Tage, nachdem er sich am Schweizer Fernsehen als Experte zum Jazz in der Schweiz geäussert hatte und zwei Wochen, nachdem er in einem Mail begeistert von neuen Kontakten und Erkenntnissen berichtet hatte (Nachruf).

Open Science

Anfang 2020 verfolgte Christian parallel zur Arbeit an den ersten Kapiteln seiner Dissertation die Idee, die gesammelten Materialien in einer Art von Blog allgemein zugänglich zu machen. Diese Idee nehmen wir vier Unterzeichnenden hiermit auf, als Beitrag zu einer Open Science, der auch Christian Steulet immer sehr verpflichtet war, aber auch und vor allem als Hommage an einen ausserordentlich geschätzten Kollegen. Gemeinsam haben wir das SNF-Projekt verantwortet, vom 6.–8. November 2014 in Luzern das Symposium Growing Up: Jazz in Europa 1960–1980 veranstaltet, um das Thema in einen europäischen Kontext zu stellen, und Beiträge daraus in einer Open Access Sondernummer des European Journal of Musicology (16/1, 2017) veröffentlicht. Gemeinsam haben wir Christians Dissertation beratend begleitet. Zusammen haben wir, mit Unterstützung durch Christians Lebenspartnerin Véronique Schmidt, im Sommer 2020 sein umfangreiches und unersetzliches Material gesichtet und möchten es nun, in seinem Sinn, der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Dieses persönliche Archiv zeigt ihn als Jäger mit scharfem Spürsinn, als passionierten Sammler, als ausgeprägten Vernetzer sowie als vielseitig interessierten Historiker und Kulturwissenschaftler.

Kulturwissenschaftlicher Ansatz

Christian Steulet hatte seine in Französisch verfasste Dissertation sehr breit angelegt. Ausgegangen war er dabei von folgender Prämisse: Wie jede kulturelle Praxis ist auch der Jazz abhängig von gesellschaftlichen, kulturellen, politischen, institutionellen und ökonomischen Bedingungen. Diese gilt es zu berücksichtigen, wenn man den Jazz als künstlerische Praxis verstehen will. Aus diesem Grund hatte Christian sich vorgenommen, nicht nur musikalische Artefakte – notierte Kompositionen und auf Tonträger gebannte Aufführungen – zu untersuchen, sondern auch Geschichte und Kontext von Institutionen (Konzertveranstalter und Ausbildungsstätten) zu berücksichtigen, die diese künstlerische Praxis ermöglichten und in entscheidender Weise mitprägten.
Der kulturwissenschaftliche Ansatz seiner Dissertation steht in der Tradition der von Marc Bloch begründeten Annales-Schule (vgl. Claudia Honegger (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte, Vorschläge zu systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977).

Materialien

Diesen doppelten, zugleich kultur- und musikwissenschaftlichen Ansatz widerspiegelt das vorliegende Archiv bzw. die grosse Vielfalt der darin enthaltenen Dokumente, Materialien und Fragmente.
Zwecks Einsicht in noch nicht als PDF verfügbare Materialien melden Sie sich bitte via Mail bei uns.

  1. Interviews: Einerseits handelt es sich um Künstlerinterviews («Entretiens biographiques»), anderseits um Experteninterviews, wobei sich die beiden Kategorien nicht trennscharf voneinander abgrenzen lassen. Diese Interviews von maximal 90 Minuten Länge sind zweiteilig; zum einen bestehen sie aus einer freien Erzählung zu den Jahren 1965–1980, zum anderen aus offenen Vertiefungsfragen. Die Transkriptionen der Gespräche wurden von den Interviewten gegengelesen.
    In den Gesprächen bildeten sich folgende Themen heraus:
    • Musikalische Bildung
    • Marksteine und Schlüsselmomente
    • Ästhetische Verortung (Avantgarde, Unterhaltungsindustrie etc.)
    • Begegnungs- und Auftrittsorte
    • Gagen- und Arbeitsbedingungen
    • Komposition und Repertoires
    • Unterricht und Weitergabe von Kompetenzen
    • Beziehung zum Publikum
    • Beziehung zu den Medien
    • Beziehungen zu anderen musikalischen Strömungen
    • Soziale und politische Umwelt
    • Verankerung in alten und neuen Organisationen
    Die Audiodateien sind auf Anfrage erhältlich und in Kürze an den Hörstationen der Schweizerischen Nationalphonothek konsultierbar.
  2. Tonaufnahmen und Filmmitschnitte (Inventar, pdf) von selektionierten stilbildenden Konzerten, darunter auch vermeintlich verlorene wie diejenigen vom Zürcher Jazzfestival, die das Schweizer Radio seinerzeit veranlasste, später aber löschte. Gerne verweisen wir hier auch auf die von Arild Widerøe zusammengestellte Swiss Jazz Discography.
  3. Programme, Fotos, Zeitungsausschnitte und – wie etwa bei den Bieler Kulturtätern – teils auch weitere Akten.
  4. Entwürfe und Fragmente der Dissertation


Ausblick

Auch wenn Christian nicht mehr dazu gekommen ist, alle Ansätze zusammenzufassen und auszuführen, und die geduldig zusammengetragenen, reichhaltigen Materialien in einem ausführlichen Diskurs zur Geschichte des Jazz in der Schweiz fruchtbar zu machen, so ist es doch sicherlich in seinem Sinne, diese Dokumente mit weiteren Interessierten zu teilen. Somit hoffen wir, dass dieses nun zugänglich gemachte, persönliche Archiv mit seinem unveröffentlichten Material zur weiteren Erforschung des Jazz in der Schweiz beiträgt, und vielleicht auch einmal zu einer Gesamtdarstellung führt. Das Archiv ist bewusst offen angelegt: Rückmeldungen, Kommentare, weitere Hinweise und Daten sind sehr erwünscht.

Bern, Lausanne und Luzern, im Frühling 2021
Thomas Gartmann
Angelika Güsewell
Olivier Senn
Britta Sweers

Die Hochschule der Künste Bern
ist ein Departement der Berner Fachhochschule